Ich fordere Gerechtigkeit
[…]
Vor allem vier Dinge muss der neue Justizminister […] angehen.
[Keine Dokumentation der Hauptverhandlung]
Erstens: An einer Dokumentation der Hauptverhandlung in Strafsachen führt kein Weg vorbei. Die deutsche Strafjustiz verurteilt Menschen zu langjährigen Freiheitsstrafen […] auf der Grundlage von Hauptverhandlungen von gerne mal 20 Tagen […], bei denen niemand amtlich protokolliert, was die Prozessbeteiligten, Zeugen und Sachverständigen eigentlich sagen. Das ist ein Skandal. […]
Wird etwa das mögliche Opfer einer Vergewaltigung von morgens 9.30 Uhr bis um 14.30 Uhr vernommen und werden […] [ihm] dabei 78 Fragen gestellt, so steht im Protokoll des Gerichts: „Die Zeugin sagte zur Sache aus.“ Sonst nichts. Was die Frau fünf Stunden lang „zur Sache“ aussagte, findet sich […] bestenfalls im vollgekritzelten Spiralblock der Richterin, in einer etwas anderen Version im Laptop des Staatsanwalts und in wieder anderer Fassung in der Mitschrift der Verteidigerin. Was das Gericht glaubt, dass die Zeugin gesagt habe, erfährt der Angeklagte später im Urteil – doch was sie „wirklich“ gesagt hat, weiß und beweist niemand. […]
Nach jahrelanger massiver Kritik, nicht zuletzt von Rechtsanwälten und Strafverteidigern, wollte der kürzlich abgetretene Justizminister Marco Buschmann (FDP) das schließlich ändern. Sein Entwurf eines „Hauptverhandlungsdokumentationsgesetzes“ hat den Bundesrat nicht überstanden. […] Der neue Justizminister wird ihn als ein Kernprojekt wieder aufgreifen müssen. Stemmen muss er sich dabei vor allem gegen den Wind aus der Strafjustiz, allen voran einer Brigade deutscher Generalstaatsanwälte, also der obersten Staatsanwälte der Länder: In einer gemeinsamen Erklärung sind sie mit deftigen Worten und bisweilen den Verstand beleidigenden „Argumenten“ Sturm gelaufen gegen die Hauptverhandlungsdokumentation. Kostprobe? Das nackte Formalprotokoll habe sich doch „seit Jahrzehnten bewährt“ […]. Seine Schwächen seien „nicht empirisch belegt“ […]. Ein amtliches Inhaltsprotokoll „hilft … nicht bei der Wahrheitsfindung“. […]
Alle (!) deutschen Generalstaatsanwälte glauben also […], dass deutsche Strafrichter […] Wunder der Kognitionspsychologie vollbringen: Sie hören Zeugen nicht nur stundenlang zu und schreiben ihre Aussagen zuverlässig mit. Nein, sie können gleichzeitig Mimik und Gestik der Zeugen und des Angeklagten verfolgen. Obendrein gleichen sie die Aussage mit ihren zusammengekritzelten Angaben anderer Zeugen und mit den Akten ab („Hat der Nachbar des Zeugen heute Morgen nicht das Gegenteil gesagt?“ […]). Dazu sollen die Richter imstande sein, ohne dass es ihnen im Studium oder Referendariat jemals beigebracht wurde.
Weitere wunderbare Beanstandungen der Generalstaatsanwälte lauten: „datenschutzwidrig“, „unzureichend mit der Praxis abgestimmt“ und „kapazitätsmäßig nicht zu realisieren“. […] Entlarvend ist vor allem dieser Einwand: Auf Grundlage einer Dokumentation der Hauptverhandlung wäre es dem Angeklagten fortan möglich, mit der Revision zu beanstanden, dass ein Zeuge tatsächlich etwas ganz anderes ausgesagt hat, als im Urteil steht. Und weil das durch eine Dokumentation beweisbar wäre, würde der Bundesgerichtshof „nicht umhinkommen, sich mit diesen Revisionsrügen … auseinanderzusetzen“. Jawoll!, ruft der Rechtsstaat. Doch die Generalstaatsanwälte finden: Dem muss „durch klarstellende Regelungen des Gesetzgebers … begegnet werden“.
[Revisionsverfahren: Verwerfung intransparent]
Das führt zum Zweiten auf der To-do-Liste des neuen Ministers: dem Revisionsverfahren. Wer wegen einer schweren Straftat zu einer langen Freiheitsstrafe verurteilt wird, dem steht als einziges (!) Rechtsmittel die Revision zum Bundesgerichtshof offen. Eine zweite Tatsacheninstanz bietet sich ihm nicht. Rügen kann er also nur eine fehlerhafte Rechtsanwendung durch die Richter am Landgericht […]. Das bedeutet: Der Bundesgerichtshof klärt keineswegs auf, „wie es wirklich war“. Er vernimmt weder den Angeklagten noch Zeugen oder Sachverständige, er verliest keine Urkunden und sieht sich auch das Mordwerkzeug nicht noch mal an. Nein – er prüft lediglich, ob das schriftliche Urteil der Richter einen Rechtsfehler aufweist oder ihnen beim Verfahren Fehler unterlaufen sind. Zum Beispiel, wenn die Würdigung der Beweise im Urteil widersprüchlich ist. Oder wenn beim Urteil ein zu Recht wegen Besorgnis der Befangenheit abgelehnter Richter mitgewirkt hat.
Die Entscheidung über eine Revision trifft einer der sechs Strafsenate des Bundesgerichtshofs. Besetzt ist er dabei mit fünf Richtern, darunter der Vorsitzende und der „Berichterstatter“, also jener Bundesrichter, der die Entscheidung für die anderen vorbereitet. In etwa 95 Prozent der Fälle entscheidet der Senat nicht in Form eines Urteils nach einer öffentlichen und mündlichen Revisionsverhandlung, sondern in einem schriftlichen Verfahren durch Beschluss. Neun von zehn Revisionen werden verworfen […]. Dann heißt es bloß: „Offensichtlich unbegründet“. Der ablehnende Beschluss muss nicht begründet werden. Niemand erfährt, warum der Bundesgerichtshof die Revision verwirft. […]
Voraussetzung für die Beschlussverwerfung ist, dass der Generalbundesanwalt sie zuvor beantragt und der Strafsenat die Revision einstimmig für offensichtlich unbegründet hält. Der Gesetzgeber glaubte einst, mit diesen drei strengen Anforderungen hinreichende Sicherungen eingebaut zu haben, um eine leichtfertige Ausweitung des Beschlussverfahrens und Willkür zu verhindern. Wie die Zahlen zeigen, war das ein Trugschluss: Aus Veröffentlichungen ehemaliger Bundesrichter wissen wir, dass die gesetzliche Anforderung der „Offensichtlichkeit“ behandelt wird, „als sei sie nicht geschrieben“. Das bedeutet: „Sie hat in der Praxis des Revisionsgerichts keine Bedeutung“, werde in „keinem einzigen Fall … ernsthaft beraten“. Nicht besser bestellt ist es um die „Einstimmigkeit“: Sie wird bisweilen auch bei „vier zu eins“ und „drei zu zwei“ behauptet, nachdem sich die Abweichler im Senat zugunsten eines raschen Beschlussverfahrens auf Linie bringen ließen. Dahinter verbergen sich freilich weder kafkaeske Richterriegen noch Ignoranz, sondern die Kapitulation vor der schieren Erledigungslast: Wie sonst könnte der Bundesgerichtshof jährlich mit den mehr als 3.000 Neueingängen (im Schnitt 530 pro Senat!) fertig werden?
Das Fatale an der Dominanz der Beschlussverfahren ist nicht der Verzicht auf eine Hauptverhandlung […]. Die Rechtsfragen lassen sich in der Tat meist schriftlich klären […]. Das Unheil des Beschlussverfahrens liegt vielmehr in dramatischen Qualitätseinbußen. In der Fachliteratur sind diese Einbußen von Revisionsrichtern selbst vielfach beschrieben und statistisch belegt worden: Grundlage der revisionsgerichtlichen Prüfung ist im Wesentlichen das Urteil der Tatrichter (von nicht selten hundert Seiten oder mehr) und die (bisweilen noch umfangreichere) Revisionsbegründung. Daher sollte man meinen, dass alle fünf Richter des Senats sie auch lesen.
Nicht so beim Beschlussverfahren: Hier bekommen drei der fünf entscheidenden Richter die Unterlagen nicht einmal zu Gesicht. Obwohl sie die einzige Grundlage ihrer Entscheidung sind, werden sie nur vom Vorsitzenden und dem „Berichterstatter“ gelesen. Letzterer trägt seine Zusammenfassung […] den Kollegen mündlich vor, auf dass gemeinsam entschieden […] werde. Das widerfährt pro Beratungstag zwischen 5 und 15 Revisionen. In der Spitze sind auch schon bis zu 90 (!) Revisionen an einem einzigen Tag auf diese Weise erledigt worden. […] Dem Bürger graute, wüsste er davon.
Der neue Justizminister müsste das Entscheidungsverfahren vom Kopf auf die Füße stellen. „Offensichtlichkeit“ und „Einstimmigkeit“ müssten als Voraussetzung fürs Beschlussverfahren fallen: Was behandelt wird, „als wäre es nicht geschrieben“, hat im Gesetz nichts verloren. Im Gegenzug bedürfte es der gesetzlichen Anordnung, dass alle mitentscheidenden Revisionsrichter das Urteil und die Revisionsbegründung selbst lesen und die gemeinsame Entscheidung schriftlich begründen müssen. […] Weil naheliegt, dass eine solche Neuregelung den Arbeitsaufwand des Bundesgerichtshofs erheblich steigert, müssten weitere Strafsenate eingerichtet werden. […]
[Haftentschädigung]
Drittens und viertens gilt das gleiche für die Erhöhung von Haftentschädigungen und Pflichtverteidigergebühren – auch sie müssen dem neuen Justizminister ein Anliegen sein. Stellen Sie […] sich einmal vor, Sie säßen infolge eines Fehlurteils […] unschuldig im Gefängnis […]: Sagen wir wegen angeblicher Vergewaltigung einer Verwandten (wie Adolf S. und Bernhard M., Herbert Becker und Dieter Gill), Ihrer Nachbarin (wie Ralf Witte) oder Ihrer Arbeitskollegin (wie Horst Arnold) oder wegen der Tötung eines Familienoberhaupts (wie bei Familie Rupp) oder einer Bekannten (wie Manfred Genditzki). […]
Und stellen Sie sich weiter vor, Sie gewinnen einen (zunächst unbezahlt arbeitenden) Verteidiger, der sich Ihrer Sache annimmt, und werden am Ende eines mühevollen Wiederaufnahmeverfahrens tatsächlich freigesprochen – was schätzen Sie, ist der Justiz Ihre zu Unrecht erlittene Gefangenschaft wert? Bis Oktober 2020 waren es 25 Euro pro Tag, seither sind es 75 Euro. Zum Vergleich: Um damit insgesamt auf die Jahresbezüge der drei Berufsrichter zu kommen, die für die Zerstörung Ihres Lebens verantwortlich sind (dafür aber nie zur Rechenschaft gezogen werden), müssten Sie schon fast 8 (früher 24) Jahre unschuldig gesessen haben. Welch eine Niedertracht.
[Pflichtverteidigergebühren]
Oder stellen Sie sich vor, Sie sind der vom Staat bezahlte Pflichtverteidiger in einer komplizierten Strafsache. Ihr mittelloser Mandant bestreitet die Tat vehement. Im Ermittlungsverfahren lesen Sie Hunderte Seiten Hauptakten, Beiakten und Sonderbände. Ihren Mandanten besuchen Sie alle zwei Wochen in der Untersuchungshaft. […] zwei Tage sitzen Sie an einer Haftbeschwerde […]. […] In der Hauptverhandlung verteidigen Sie Ihren Mandanten an sieben Sitzungstagen […]; die Vor- und Nachbereitung kommt obendrauf. Nach der Verurteilung sitzen Sie eine knappe Woche über der Revisionsbegründung. Was denken Sie, verdienen Sie an diesem Mandat, das […] einen Arbeitsmonat füllt? Ich sage es Ihnen: keine 4.000 Euro brutto. Ein gerichtlicher […] Sachverständiger kann das in einer einzigen Woche erwirtschaften.
[Ausblick]
Wie also könnte unser Rechtsstaat in vier Jahren aussehen? Was Zeugen und Sachverständige […] gesagt haben, wird endlich dokumentiert. Das einzige Rechtsmittel gegen hohe Freiheitsstrafen wird endlich von allen […] Richtern ernsthaft geprüft. Und für die Entschädigung Unschuldiger oder die Vergütung von Pflichtverteidigern muss man sich endlich nicht mehr schämen. Besinnt sich der neue Justizminister darauf, dass er dem Rechtsstaat verpflichtet ist […]? […]
Zeit online am 19.02.2025
https://www.zeit.de/2025/08/justiz-stra ... e=d19b206b