Wann ist ein Richter im Strafprozess „befangen“?
Der BGH hat ein Urteil aufgehoben, an dem eine zurecht wegen Besorgnis der Befangenheit abgelehnte Richterin mitgewirkt hatte. Ihre dienstliche Erklärung bestätigte diese Besorgnis – kommt es auf mehr an, Herr Fischer?
Kürzlich hat der Bundesgerichtshof … ein strafrechtliches Urteil des Landgerichts … Traunstein im sog. Fall „Eiskellermord“
aufgehoben (… [Beschluss] v. 01.04.2025, Az. 1 StR 434/24). Die Aufhebung (mit der Folge der Zurückverweisung; §
354 Abs. 2 … StPO) erfolgte auf eine Verfahrensrüge des Angeklagten, mit welcher er eine Verletzung von §
338 Nr. 3 StPO geltend gemacht hatte. Auf die zugleich erhobene Sachrüge kam es daher nicht mehr an; insoweit lagen Schlagzeilen wie „Was geschah wirklich …?“ eher neben der Sache. Dasselbe gilt für kolportierte (justizielle) Stellungnahmen, wonach der BGH „keine Bedenken“ gegen die sachlichen Feststellungen, die Beweiswürdigung und die rechtliche Bewertung gehabt habe: Zu Fragen, auf welche es gar nicht ankommt, muss das Revisionsgericht nicht Stellung nehmen und will es in aller Regel auch nicht.
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Auf die Einzelheiten kommt es nicht an
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Angeklagt war eine Tat (d.h. ein Geschehensablauf), die nach Ansicht der Staatsanwaltschaft den Tatbestand des Mordes (§
211 … StGB) verwirklichte … Im Laufe der Hauptverhandlung wandte sich der Sitzungsvertreter der Staatsanwaltschaft in vertraulichem Duz-Ton per E-Mail an die Vorsitzende der zuständigen Jugendkammer. Er teilte ihr mit, wie er selbst und ein Kollege den Sachverhalt und die Beweislage sähen und wie sie zu plädieren beabsichtigten.
Die Vorsitzende antwortete alsbald und stellte ihrerseits Erwägungen zur Beweiswürdigung und rechtlichen Beurteilung an. Die E-Mail-Korrespondenz nahm die Vorsitzende zu einem Sonderheft der Akte, teilte sie aber den anderen Verfahrensbeteiligten nicht mit. Sie wurde durch Zufall von einer Verteidigerin in dem Sonderheft entdeckt. Die Verteidiger lehnten daraufhin die Vorsitzende wegen Besorgnis der Befangenheit ab (§
24 Abs. 2 StPO). Die Strafkammer wies das Ablehnungsgesuch zurück und verurteilte den Angeklagten unter Mitwirkung der abgelehnten Vorsitzenden Richterin.
Gegen das Urteil erhob der Angeklagte mit der Revision eine Verfahrensrüge gem. §
338 Nr. 3 StPO.
Die Kammervorsitzende verfasste bei Vorlage dieser Revision unaufgefordert eine „dienstliche Erklärung“, in welcher sie versicherte, nicht festgelegt gewesen zu sein.
Lektüreempfehlung der gesetzlichen Vorschriften
Man muss an dieser Stelle einleitend drei gesetzliche Vorschriften zitieren (und dringend zur Lektüre empfehlen):
§
337 StPO Revisionsgründe
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§
338 StPO Absolute Revisionsgründe
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§
24 Abs. 1 und 2 StPO Ablehnung eines Richters; Besorgnis der Befangenheit
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Befangenheit muss nicht bewiesen werden
Die meisten Laien und auch ganz erstaunlich viele Richter denken, dass die Voraussetzung einer (erfolgreichen) Ablehnung wegen Besorgnis der Befangenheit sei, dass der betreffende Richter tatsächlich befangen ist. Das würde dazu führen, dass in dem Verfahren über den Ablehnungsantrag diese Befangenheit bewiesen werden müsste. Auf der Grundlage dieser falschen Auslegung des §
24 Abs. 2 StPO fühlen sich sehr viele – genauer gesagt: die Mehrzahl – aller abgelehnten Richter veranlasst, in die „dienstliche Erklärung“, welche sie gem. §
26 Abs. 3 StPO abgeben müssen, zu schreiben: „Ich fühle mich nicht befangen“.
Das ist, um es unfreundlich auszudrücken, Unfug und kann, wenn es mit rechten Dingen zugeht, auf keinen Fall dazu führen, dass der Ablehnungsantrag zurückgewiesen wird. Das gilt erst recht, wenn solcherlei Erklärungen gegenüber dem Revisionsgericht abgegeben werden. Denn darauf, wie der Richter sich „fühlt“, kommt es nach dem Wortlaut des §
24 Abs. 2 StPO gar nicht an: Es geht allein um die „Besorgnis der Befangenheit“, und diese bestimmt sich nicht nach den Gefühlen oder der Eigenwahrnehmung des Abgelehnten, sondern nach dem Blickwinkel desjenigen Verfahrensbeteiligten (Angeklagter, Staatsanwaltschaft, Nebenkläger, Adhäsionskläger, Einziehungsbeteiligter), der den Richter ablehnt.
Der Grund dafür ist vor allem, dass kein Mensch und daher auch kein Gericht in der Lage ist, die „Gefühle“ anderer Menschen objektiv gültig zu überprüfen. Die „Besorgnis“ der Befangenheit ist also eine sozusagen vor die interne Gedanken- und Stimmungssphäre des Richters gezogene, objektivierende Anforderung: Diese Besorgnis muss der Ablehnende haben, nicht der Abgelehnte. Das geht – mit Gründen – nur, wenn objektive Anhaltspunkte gegeben sind, auf welche sich die Besorgnis stützen kann. Nach ständiger Rechtsprechung kommt es dabei auf den objektivierbaren Blickwinkel eines verständigen und vernünftigen Verfahrensbeteiligten in der Verfahrensrolle des ablehnenden Antragstellers an. Daher kann eine Ablehnung nicht darauf gestützt werden, dass ein Richter „irgendwie den Eindruck erweckt“, er sei voreingenommen oder parteiisch.
Nicht mehr, und nicht weniger als offene Annäherung
Unparteilichkeit (Unvoreingenommenheit, Neutralität) bedeutet, sich als Richter einer zu entscheidenden Rechtssache „offen“ zu nähern, also die Sachverhaltsfeststellung ohne Bevorzugung oder Benachteiligung einer Seite durchzuführen sowie die rechtliche Würdigung und die Rechtsfolgenbestimmung nicht nach Maßgabe von einseitiger Neigung vorzunehmen. Der nach §
38 Deutsches Richtergesetz zu leistende Richtereid lautet:
„Ich schwöre, das Richteramt getreu dem Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland und getreu dem Gesetz auszuüben, nach bestem Wissen und Gewissen ohne Ansehen der Person zu urteilen und nur der Wahrheit und Gerechtigkeit zu dienen.“
Richter sind keine Übermenschen. Sie haben Prägungen, Erfahrungen, Vorurteile, Neigungen und Gefühle wie alle anderen Menschen auch. Sie sind allerdings aufgrund Ausbildung und beruflicher Sozialisation vielfach von der „Palmström“-Überzeugung durchdrungen, dass nicht sein könne, was nicht sein darf: Wenn im Gesetz steht, der Richter müsse unabhängig und unparteilich sein oder dies oder jenes können, dann verstehen bedauerlich viele das weniger als ständige Aufgabe denn als Zustandsbeschreibung mit Garantiecharakter.
Von klaren Fällen und skurrilen Missverständnissen
Die Beurteilung, ob aus Sicht eines vernünftigen Verfahrensbeteiligten die Besorgnis der Befangenheit besteht, ist oft nicht einfach, weil die subjektiven Interessen aufeinanderprallen und Handlungen oder Äußerungen von Richtern im Einzelfall durchaus unterschiedlich verstanden oder bewertet werden können. Hinzu kommen auch verfahrenstaktische Erwägungen: Stellt die Verteidigung einen Befangenheitsantrag, ist die „Stimmung“ im Verfahren meist nachhaltig verdorben. Wird in einem umfangreichen Verfahren ein Richter kurz vor Schluss erfolgreich abgelehnt, „platzt“ die ganze Hauptverhandlung. Befangenheitsfragen werden von den Beteiligten selten „sportlich“ genommen.
Es gibt eine unüberschaubare Einzelfall-Rechtsprechung zur Befangenheit von Richtern oder Schöffen. Sie reicht von klaren Fällen („Ihnen wird das Lachen noch vergehen!“) bis zu skurrilen Missverständnissen. Auch Schöffen sorgen gelegentlich für atemberaubende Szenen: In einer einst von mir geführten Hauptverhandlung fragte ein Schöffe den – seine Unschuld beteuernden – Angeklagten: „Tut es Ihnen denn überhaupt nicht leid?“
Kontakte nur verfahrensoffen und transparent
Im Traunsteiner Fall drängte sich die Besorgnis der Befangenheit auf; die Zurückweisung des Antrags durch die Kammer war daher schwer verständlich. Selbstverständlich sind in einer „offenen“ Verfahrensführung auch Kontakte des Gerichts mit Verfahrensbeteiligten erlaubt. Sie müssen aber verfahrensoffen und transparent gestaltet sein. Diskussionen über Fragen, die offenkundig zum gerichtlichen Beratungsgegenstand gehören (und dann dem Beratungsgeheimnis unterfallen), mit einzelnen Beteiligten unter Verheimlichung gegenüber den anderen sind nicht tolerabel. Ein solches Verhalten muss fast zwingend zu dem Eindruck des Übergangenen (hier: des Angeklagten) führen, der betreffende Richter stehe ihm nicht mehr neutral gegenüber.
An dieser Stelle ist allerdings auch die Rolle des Staatsanwalts zu hinterfragen:
Die im Kumpel-Ton verfasste, offensichtlich einer „Abstimmung“ dienende Mitteilung an die Vorsitzende, wie die Staatsanwaltschaft zu plädieren gedenke, war verfehlt. Das gibt Anlass zu dem Hinweis, dass eine demonstrative Vertraulichkeit zwischen erkennendem Gericht und sachbearbeitenden Staatsanwälten jedenfalls bedenklich erscheint; weil sie den (gelegentlich zutreffenden) Eindruck nahelegt, es gehe im Verfahren um eine Gegenüberstellung von „Wir gegen sie“.
Begünstigt werden kann das durch eine Justizorganisation, in welcher – wie z.B. in Bayern – die beruflichen Biografien durch regelmäßigen Wechsel zwischen Gericht und Staatsanwaltschaft verwoben sind.
Im Übrigen gilt das Vorstehende auch für das Gericht selbst: Eine ganze Strafkammer (einschließlich Schöffen und Ergänzungsschöffen), die sich in der Hauptverhandlung penetrant duzt („Lies' Du mal weiter, Roland!“), erzeugt den Eindruck einer Versammlung von Kumpels, nicht von neutralen und unvoreingenommenen Richtern.
Objektiver Blickwinkel oder kollegiale Solidarität
Abgelehnt werden kann ein Richter nur vor der Entscheidung, die er zu fällen hat. Eine nachträgliche Ablehnung ist unzulässig. Auch die Revision kann nicht auf die Rüge gestützt werden, ein Richter, gegen den kein Ablehnungsgesuch gestellt wurde, sei „in Wahrheit“ befangen gewesen.
Die „wahre“, innere Befangenheit ist sowieso nicht zu beweisen; sie kann durch „Pokerface“, durch betonte Freundlichkeit oder auch durch schlichte Vermeidung von Angriffspunkten leicht verschleiert werden und fällt in den persönlichen, moralischen Zuständigkeitsbereich jedes Richters. Über §
24 Abs. 2 StPO können nur Fälle erfasst werden, in denen Handlungen oder Äußerungen eines Richters äußere Anhaltspunkte erkennen lassen.
Über ein (nicht offensichtlich unzulässiges) Ablehnungsgesuch entscheidet der jeweilige Spruchkörper ohne den abgelehnten Richter, statt seiner wirkt ein Vertreter mit. Das führt ziemlich häufig zu recht diffizilen Abwägungen zwischen „objektivem Blickwinkel“ und kollegialer Solidarität. Wer bescheinigt schon gern dem oder der Vorsitzenden der eigenen Kammer, der sich „nicht befangen fühlt“, dass er grob danebengelangt und die Besorgnis der Befangenheit begründet hat? An so etwas zerbrechen auch einmal jahrelange Freundschaften. Außerdem ist die Ansicht verbreitet, Befangenheitsanträge (der Verteidigung) dienten meist sowieso nur zur Stimmungsmache und Verfahrensobstruktion. Das kann im Einzelfall stimmen, muss aber nicht.
Dienstliche Erklärung nur über Tatsachen
Aus dem Verfahren über ein Befangenheitsgesuch hat sich der abgelehnte Richter herauszuhalten, von der Pflicht zur dienstlichen Erklärung über die Tatsachen (!) abgesehen.
Erklärungen, wie sie im Traunsteiner Fall abgegeben wurden, verstärken, wie der BGH ausgeführt hat, noch den Eindruck, der Sache nicht mehr unvoreingenommen gegenüberzustehen. Man muss gerade auch als Richter lernen, die eigene Beleidigtheit über die Behauptung zu ertragen, man sei nicht der allergrößte und habe einen (schweren) Fehler gemacht.
Auch gegenüber dem abgelehnten Richter gilt übrigens das Beratungsgeheimnis derjenigen, die ohne ihn über das Ablehnungsgesuch entscheiden. Wie die Beratung und Abstimmung darüber verlaufen ist, geht ihn nichts an; er muss mit der Entscheidung leben.
Antworten, im Ergebnis
1) Die Feststellung richterlicher Befangenheit richtet sich nicht nach der Selbsteinschätzung der Richter, sondern nach dem objektiven Blickwinkel eines vernünftigen Verfahrensbeteiligten in der Position dessen, der ein Befangenheitsgesuch stellt.
2) Abgelehnte Richter müssen sich zu den im Befangenheitsgesuch genannten Tatsachen dienstlich äußern. Erklärungen über ihren guten Willen oder ihr „Gefühl“ oder gar Spekulationen über die Motive des Gesuchs sind nicht nur überflüssig, sondern verfehlt; sie können neue Ablehnungsgründe offenbaren.
3) Ablehnungsgesuche und Befangenheitsrügen können eine allein innerliche Befangenheit eines Richters nicht beweisen. Es geht um die vernünftige „Besorgnis“ der Befangenheit, welche sich auf konkrete Handlungen eines Richters bezieht.
4) Kumpelhaftes Zusammenwirken von Richtern mit Staatsanwälten (oder auch mit Verteidigern) ist zu vermeiden. Kommunikation über sachliche und formelle Verfahrensfragen ist verfahrensoffen und transparent zu gestalten. Das Anlegen von geheimen „Nebenakten“ begründet regelmäßig die Besorgnis der Befangenheit (Schönes Beispiel Beschl. des LG Bonn v. 22.02.2023, Az. 63 KLs-213 Js 15/22-1/22).
Legal Tribune online (LTO) am 29.04.2025
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