JessicaFletcher hat geschrieben: ↑Montag, 19. Mai 2025, 14:50:06
Hallo Maurice,
vielen Dank für deine Antwort!
Du hast Recht, ich habe die Yooliety-Chats vergessen! Dann hat sich das schon mal für mich aufgeklärt, ein Fragezeichen weniger im Kopf.
Bin gespannt auf deine weiteren Überlegungen!
Zunächst stehen mehrere Möglichkeiten im Raum:
Die SMS wurde im oder außerhalb des Pubs geschrieben und erst später in Nieheim verschickt.
Die SMS war freiwillig.
Die SMS wurde unter Zwang verfasst, war also unfreiwillig.
Die SMS wurde ohne Fraukes direkten Einfluss erstellt, als sie sich bereits in einer unfreiwilligen Situation befand.
Punkt 1 möchte ich zunächst ausklammern. Vor einigen Wochen habe ich meine Überlegungen dazu erläutert und dabei die Bedienungsanleitung des Nokia 6230, meine eigenen Experimente sowie teils Aussagen von HP1 berücksichtigt. Aufgrund dieser Einschätzungen halte ich es für äußerst unwahrscheinlich, dass Punkt 1 zutreffen könnte. Dennoch bin ich kein Experte auf diesem Gebiet und bereit, meine Ansicht zu überdenken, falls sich Fehler oder Fehlschlüsse in meiner Argumentation zeigen.
Auch Punkt 4 schließe ich aus, da ich mich hierzu bereits früher geäußert habe. Daher bleiben für mich nur noch Möglichkeit 2 und 3 übrig.
Unsere Einschätzungen zur ersten SMS würden sich vermutlich verändern oder erhärten, wenn wir Zugriff auf Teile der Ermittlungsakten hätten. Insbesondere wäre es hilfreich zu wissen, wie lange sich Fraukes Handy vor der ersten SMS in Nieheim eingeloggt hatte. Falls das Handy über einen längeren Zeitraum aktiv gewesen wäre – sowohl vor als auch nach dem Versand der Nachricht –, würde dies die Annahme einer freiwilligen SMS eher stützen.
Die Polizei geht offenbar davon aus, dass die erste SMS freiwillig war. Ich kann mir jedoch nicht vorstellen, dass sie allein aufgrund des Wortlauts zu dieser Einschätzung gelangt ist. Es liegt nahe, dass noch weitere Erkenntnisse vorhanden sind, die diese Annahme unterstützen. Dabei erscheint mir das Argument, Frauke hätte bei einer unfreiwilligen Nachricht einen anderen Wortlaut gewählt, eher schwach. Abgesehen von der Erwähnung von „Christos“ im ersten Anruf und dem zögerlichen „Ja“ auf die Frage, ob sie festgehalten werde, hat sie sich stets an die Anweisungen des Täters gehalten. Niemand glaubt wirklich, dass sie ihre Gespräche völlig frei und ohne Instruktionen geführt hat.
Da ich jedoch keinen Zugang zu den Ermittlungsakten habe und nicht weiß, welche weiteren Indizien der Polizei vorliegen, muss ich auch die Möglichkeit in Betracht ziehen, dass die SMS unfreiwillig verfasst wurde. Dafür spricht unter anderem die unklare und unpräzise Formulierung – eine Eigenschaft, die sich auch in den folgenden Anrufen zeigt. Zwar machte Frauke vage Angaben zu ihrer Heimkehr, doch der Großteil ihrer Aussagen blieb nebulös. Auch die SMS enthält keinerlei wirklich hilfreiche Informationen für den Empfänger. Sie wusste, dass sie keinen Schlüssel hatte, kannte die Uhrzeit, wusste von ihrem frühen Schulbeginn am nächsten Morgen und war sich bewusst, dass Chris zuhause auf sie wartete.
Chris selbst sagte in einem Filmbeitrag von Kriminalreport (WDR, 2008), der mir auf Videoband vorliegt, dass Frauke absolut zuverlässig war und unter der Woche stets früh zu Bett ging. Dies hatte für sie große Priorität.
Ein Zeitungsartikel der Neuen Westfälischen (NW) vom 27. November 2006 – wenige Tage vor dem Auffinden ihrer sterblichen Überreste – trägt den Titel Sehnsucht nach Frauke Liebs und enthält folgende Aussage:
> „Sie hätte mit ihm gerne mehr Zeit in der Wohnung verbracht. Es hat sie gestört, dass ich nach der Uni sofort (Anmerkung: am Donnerstag) nach Lübbecke gefahren bin. Sie hat gesagt: Chris, wir sind beste Freunde. Du machst dein Ding, ich mache mein Ding. Aber wir haben nicht mehr als dieselbe Adresse.“
Diese Aussage spricht für eine enge Bindung zu Chris und passt nicht zu einer Person, die eine ihr wichtige Person ohne klare Rückkehrankündigung einfach warten lässt.
Auch die Möglichkeit, dass Frauke sich zum Zeitpunkt der SMS noch in Freiheit befand und erst später in eine unfreiwillige Situation geriet, halte ich für unwahrscheinlich. Entweder kippte die Situation direkt nach dem Versand der SMS oder in einem sehr engen zeitlichen Zusammenhang. Andernfalls müsste man davon ausgehen, dass Frauke – die sich zuvor bei ihren Freunden über ihre Müdigkeit beklagt hatte – sich freiwillig bis kurz vor 1 Uhr nachts noch weit entfernt von ihrer Wohnung aufhielt. Das erscheint wenig plausibel.
Auch die Tatsache, dass sie nicht auf ihren fehlenden Schlüssel, ihre Heimkehr oder ihre Situation eingeht, spricht aus meiner Sicht eher für eine unfreiwillige Nachricht.
Falls die SMS tatsächlich unter Zwang verfasst wurde, gehe ich davon aus, dass der Täter die Tat im Voraus geplant hat und die Nachricht bewusst aus dieser Funkzelle verschickte. Dies deckt sich mit frühen Aussagen von Bewohnern Nieheims. In der NW-Ausgabe Der Fall Liebs schreckt die Region vom 25. Januar 2007 äußerte sich ein Gymnasiast aus Nieheim folgendermaßen:
> „Für mich sind noch zu viele Fragen offen, um den Täter ausschließlich im engeren Umfeld von Nieheim und Marienmünster zu vermuten. Soweit ich informiert bin, steht ja noch nicht einmal die genaue Todesursache fest. Es kann ja auch jemand mit den Telefonanrufen ganz gezielt eine falsche Spur gelegt haben. Wünschen würde ich mir, dass der mögliche Täter nicht hier aus der Gegend kommt.“
Auch die Formulierung nicht gegen England könnte aus den Umständen der Entführung heraus entstanden sein. Ich weiß nicht, wie bedrohlich die Situation tatsächlich war oder was genau geschah. Allerdings spricht vieles für einen Tätertyp, der nicht impulsiv oder aggressiv gehandelt hat. Möglicherweise besaß Frauke anfangs noch mehr Selbstvertrauen und schätzte ihre Lage zunächst anders ein.
Das „HDGDL“ (Hab dich ganz doll lieb) könnte schriftlich einfacher über die Lippen gekommen sein als eine emotionale Botschaft am Telefon. Es taucht auch in der zweiten SMS auf, was spätestens dann für eine unfreiwillige Nachricht spricht.
Insgesamt bliebe die Freiwilligkeit der SMS nur auf die Wahl von „Chris“ statt „Christos“ und die Insider-Formulierung gestützt. Es sei denn, man könnte aus den Zeiten des Handyeinloggens andere Schlüsse ziehen. Für mich erscheint eine unfreiwillige Verfassung der Nachricht daher wahrscheinlicher.