Glaubhaftigkeit von Aussagen in Sexualstrafprozessen: die Nullhypothese
Aussagepsychologische Gutachten, die die Glaubhaftigkeit von Zeugenaussagen bewerten, gelten in Strafprozessen als wichtige Beweismittel. Wenngleich ihnen eine hohe Fehlerhaftigkeit anhaftet, stehen sie häufig im Mittelpunkt eines Strafverfahrens. …
Aussagepsychologische Analysen – Hauptanwendungsfälle im Sexualstrafrecht
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Innerhalb der Falschaussagen kann zwischen Fällen der ausgedachten Aussage und Fällen der Suggestion unterschieden werden. Bei einer ausgedachten Aussage (der bewussten Lüge) weiß die aussagende Person, dass sie etwas berichtet, das sie tatsächlich so nicht erlebt hat. …
Bei der Suggestion handelt es sich um Fälle, in denen der Zeuge selbst davon ausgeht, dass er das von ihm Berichtete erlebt hat, was aber tatsächlich nicht zutrifft. Vielmehr erinnert sich der Zeuge nur vermeintlich an etwas, das so nicht stattgefunden hat, tätigt also eine unbewusste Falschaussage. Solche sogenannten Scheinerinnerungen können z. B. dadurch entstehen, dass der Zeuge infolge von intensiven Befragungen seinen Bericht den Erwartungen der Befragungsperson anpasst. …
Aussagepsychologie – Historie der BGH-Rechtsprechung
In einem Urteil des Bundesgerichtshofs (BGH) aus dem Jahr 1954 (BGH,
Urteil vom 14.12.1954, Az. 5 StR 416/54, BGHSt 7, 82) legte dieser fest, dass aussagepsychologische Gutachten einzuholen sind, wenn eine Zeugenaussage maßgeblich über eine Anklage bzw. Verurteilung einer Person entscheidet. 1999 legte der BGH dann wissenschaftliche Mindestanforderungen für aussagepsychologische Gutachten fest (BGH,
Urteil vom 30.07.1999, Az. 1 StR 618/98, BGHSt 45, 164). Die
Nullhypothese wurde dabei als zentrales methodisches Prinzip hervorgehoben.
Grundlagen der Aussagepsychologie – die Nullhypothese
Aussagepsychologische Gutachten untersuchen im Wesentlichen, ob eine Person eine bestimmte Situation so wiedergibt, dass davon ausgegangen werden kann, dass sie diese auch tatsächlich so erlebt hat. Es geht somit nicht darum einzuschätzen, ob eine Person prinzipiell vertrauenswürdig bzw. glaubhaft ist, sondern ob die situationsbezogene Aussage stimmig ist. Zu diesem Zweck bedienen sich Gutachter insbesondere der
Nullhypothese.
Das Konzept, die Glaubhaftigkeit von Aussaagen mittels der „Nullhypothese“ einzuschätzen, geht auf den Psychologen Udo Undeutsch zurück, der auch weitere methodische Vorgehensweisen der Begutachtung beschrieben hat. Der BGH greift die Begrifflichkeit „Nullhypothese“ in seiner Grundsatzentscheidung von 1999 (
BGHSt 45, 164) auf und erläutert darüber hinaus, wie sie als methodisches Grundprinzip zu handhaben ist. Demnach stellt sie in ihrem Kern das
Gegenteil einer Unschuldsvermutung dar. Ein Gutachter soll also zunächst von der Annahme ausgehen, dass die getätigte Aussage unwahr ist und somit nicht auf tatsächlich Erlebtem basiert. Dieser Annahme stellt er dann alle aussagerelevanten Erkenntnisse aus einem Verfahren entgegen. Lässt sich die Hypothese, dass die Aussage unwahr ist, nicht mit diesen Fakten in Einklang bringen, so muss demnach die Alternativhypothese gelten, also dass die Aussage der Realität entspricht und somit als wahr anzusehen ist.
Hypothesenbildung
In
BGHSt 45, 164 stellt der Bundesgerichtshof fest:
„Die Bildung relevanter Hypothesen ist […] von ausschlaggebender Bedeutung für Inhalt und (methodischen) Ablauf einer Glaubhaftigkeitsbegutachtung. Sie stellt nach wissenschaftlichen Prinzipien einen wesentlichen, unerlässlichen Teil des Begutachtungsprozesses dar (…).“
Der BGH hebt hervor, dass die Bildung relevanter Hypothesen ein wesentlicher Bestandteil der Glaubhaftigkeitsbegutachtung ist. [Es] … können folgende Hypothesen herangezogen werden, um eine Aussage als unwahr einzustufen:
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Die Lügenhypothese: Es wurde bewusst eine komplett falsche oder teilweise falsche Aussage gemacht …, etwa um sich selbst zu schützen oder um an jemandem Rache zu üben.
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Die Suggestionshypothese: Es wurde eine unbewusst falsche Aussage getätigt, weil der oder die Aussagende durch andere dahingehend beeinflusst wurde.
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Merkmalsorientierte Inhaltsanalyse
„Aussagen über selbsterlebte faktische Begebenheiten müssen sich von Äußerungen über nicht selbsterlebte Vorgänge unterscheiden durch Unmittelbarkeit, Farbigkeit und Lebendigkeit, sachliche Richtigkeit und psychologische Stimmigkeit, Folgerichtigkeit der Abfolge, Wirklichkeitsnähe, Konkretheit, Detailreichtum, Originalität und – entsprechend der Konkretheit jedes Vorfalls und der individuellen Erlebnisweise eines jeden Beteiligten – individuelles Gepräge.“ So umschreibt Udo Unrecht Merkmale glaubhafter bzw. wahrer Aussagen. Eine Glaubhaftigkeitsprüfung, die Äußerungen auf solche Merkmale hin analysiert, wird als „merkmalsorientiert“ bezeichnet. Die Aussagepsychologie spricht davon, dass solche Aussagen von
„Realkennzeichen“ geprägt sind, also Merkmale enthalten, die dafür sprechen, dass es sich beim Gesagten auf die Wiedergabe von tatsächlich Erlebtem handelt.
Realkennzeichen sind bei der Beurteilung, ob eine Aussage glaubhaft ist, allerdings nur indizielle Bedeutung beizumessen. Für sich genommen haben die Indikatoren nur eine
geringe Validität. Eine zuverlässige Bewertung der Aussagequalität kann sich aber aus der Gesamtschau vorhandener und nicht vorhandener Realkennzeichen ergeben.
Hinweise auf unwahre Aussagen, sogenannte „Lügensignale“, lassen sich im Umkehrschluss durch das Fehlen entsprechender Realkennzeichen annehmen. Im Gegensatz zu einer real erlebten Situation bedarf es für die Darstellung einer unwahren einer bewussten kognitiven Leistung, die oft nur dadurch aufrechterhalten werden kann, dass die aussagende Person diese weniger komplex gestaltet. Es ist also weniger wahrscheinlich, dass diese Person z. B. detailreiche Angaben macht, Unsicherheiten zugibt oder auch selbstbelastende Aussagen trifft. Umgekehrt spricht eine inhaltlich konsistente Aussage – auch in Bezug auf Angaben zu unterschiedlichen Zeitpunkten – tendenziell für deren Glaubhaftigkeit.
Eine merkmalsorientierte Analyse, die sich auf das Vorhandensein von Realkennzeichen stützt, ist nicht geeignet, um unbewusste Falschaussagen, die auf Suggestion von außen beruhen, zu erkennen. …
Kompetenz-, Fellerquellen- und Motivationsanalyse
Kommt ein Sachverständiger in seiner Analyse über die Glaubhaftigkeit einer Aussage zu einem ersten Ergebnis, so muss dieses durch weitere Methoden auf seine Stichhaltigkeit hin geprüft werden. Zu diesen Methoden gehören u.a. die Kompetenz-, Fehlerquellen- und Motivationsanalyse.
Durch eine
Kompetenzanalyse wird ermittelt, ob die aussagende Person grundsätzlich in der Lage ist, eine zuverlässige und glaubhafte Aussage zu machen. Dabei wird die Aussagekompetenz geprüft, also die Fähigkeit einer Person, Erlebnisse wahrzunehmen, abzuspeichern, zu erinnern und sprachlich korrekt wiederzugeben. Die Kompetenzanalyse ist zentral für die Glaubhaftigkeitsprüfung bei vulnerablen Gruppen wie Kindern oder Menschen mit geistigen Beeinträchtigungen oder psychischen Belastungen.
Im Zuge einer
Fehlerquellenanalyse werden u. a. auch die Fragetechniken und Rahmenbedingungen, unter denen eine Aussage zustande kam, hinterfragt; denn nicht nur fremdsuggestive Einflüsse von Personen, die am Tathergang mittelbar oder unmittelbar beteiligt waren, können zu unbewussten Falschaussagen führen; auch der Kontext, in dem eine Aussage entstanden ist, kann deren Glaubhaftigkeit beeinflussen.
Des Weiteren soll eine
Motivationsanalyse das Ergebnis der Glaubhaftigkeitsprüfung erhärten. Dabei unterscheidet die Aussagepsychologie etwa nach wahrheitserhaltenden, selbstbezogenen, fremdbezogenen und situativen Motiven. Wahrheitserhaltende Motive zielen auf eine objektive Wiedergabe der Realität ab, während selbstbezogene Motive wie Selbstschutz oder Selbstaufwertung die Aussage verfälschen können. Ebenso können fremdbezogene Motive (etwa die Belastung oder Entlastung anderer) und situative Einflüsse wie sozialer Druck oder suggestive Befragungen die Glaubhaftigkeit beeinflussen.
Grenzen der Aussagepsychologie
Die Aussagepsychologie ist keine exakte Wissenschaft und unterliegt methodischen Grenzen. Auch wenn sich aussagepsychologische Methoden für die Bewertung von Zeugenaussagen in der Praxis vielfach bewährt haben, zeigen nicht wenige Fehleinschätzungen in Gutachten, dass ihre Aussagekraft durchaus beschränkt ist. Fehlerhafte Gutachten gibt es in beide Richtungen: Unwahren Aussagen wurde Glaubhaftigkeit attestiert, tatsächlich Vorgefallenes wurde als unwahr eingestuft.
Das gleiche gilt, wenn die Nullhypothese aufrechterhalten wird, eine Aussage also letztlich als unglaubwürdig eingestuft wird. Auch in diesem Fall bedeutet dies eher, dass man eine Falschaussage nicht ausschließen kann, nicht jedoch, dass man sie nachgewiesen hat.
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So ist allein die Auswahl eines Gutachters von entscheidender Bedeutung, da dieser die Untersuchungsmethoden und die Interpretation der Ergebnisse maßgeblich beeinflusst. …
Fazit
Fehler entstehen, wenn Gerichte die aussagepsychologischen Resultate im Sinne eines „entspricht der Wahrheit“ vs. „entspricht nicht der Wahrheit“ interpretieren und ihrer Verpflichtung, eine unabhängige richterliche Beweiswürdigung vorzunehmen, nicht nachkommen.
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RAe Schwenn, Kruse, Georg
https://rechtsanwalt-strafrecht.com/gla ... hypothese/