„Eiskeller-Prozess“
Einer kehrt heim
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… Sebastian … [T.] auf einer Parkbank. Geht er vor die Tür, ist seine Familie immer dabei. © Matthias Ziegler für ZEIT Verbrechen
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Sebastian … [T.] war … wegen Mordes an … Hanna … [W.] verurteilt worden. Sie war … in einen reißenden Bach gefallen und … zwölf Kilometer entfernt tot aus dem Wasser gezogen worden. Das Gericht war davon überzeugt, dass sie vom … Angeklagten … überfallen, niedergeschlagen und in den Fluss geworfen worden sei. … Seit dem Urteil steht er … im Mittelpunkt eines heftigen Rechtsstreits, an dem die halbe Republik Anteil nimmt. Denn einen Beweis für die Schuld Sebastian … [T.s] am Tod der Studentin Hanna … [W.] gibt es nicht.
… [T.s] Passivität vermittelt den Eindruck, er sei es von jeher gewohnt, dass andere über ihn entscheiden. Diese fatalistische Lebenshaltung war dem Psychiater schon in der Hauptverhandlung in Traunstein aufgefallen. Seine … Verteidigerin Regina Rick ist davon überzeugt, dass die nach einem Discobesuch stark alkoholisierte Hanna … [W.] in jener Nacht durch einen Unfall ins Wasser stürzte und ertrank. Schon während des Prozesses war sie mit der Vorsitzenden … Aßbichler deshalb heftig aneinandergeraten. Nach der Verurteilung ihres Mandanten holte sich Regina Rick für die Revision beim Bundesgerichtshof Verstärkung aus dem Norden: Gemeinsam mit dem jungen Hamburger Rechtsanwalt Yves Georg griff sie das Urteil des Landgerichts Traunstein mit mehreren Rügen an.
Auch die ZEIT berichtete im September 2024 in einem Dossier mit dem Titel „Sie brauchten einen Mörder“ [siehe
hier, Aktualisierung dazu
hier] kritisch über den ungewöhnlichen Weg der Jugendkammer zu der Gewissheit, Hanna … [W.] sei das Opfer eines Mordes und Sebastian … [T.] ihr Mörder. Denn: Es gab kein Geständnis, kein nachvollziehbares Motiv, und Genspuren oder einen Tatort hatte man auch nicht gefunden.
Ihre fehlende Distanz wird der Vorsitzenden Richterin am Ende zum Problem
Umso aufschlussreicher ist die Leserpost nach Erscheinen des Artikels in der ZEIT. „Absolut einseitig“ fand eine Leserin den Text. Sie habe selbst miterlebt, mit „welcher Mühe und Aufwand“ die Staatsanwaltschaft und das Gericht „alles gegeben haben, um das Verbrechen aufzuklären“. Wer den Namen jener empörten Absenderin googelt, die nach eigenen Angaben „gute Beziehungen zu Aschau“ unterhält, stößt nicht etwa auf jemanden, der den intensiven Ermittlungsaufwand von Amts oder Berufs wegen „miterlebt“ haben kann. Ein Foto in einer Lokalzeitung zeigt sie zusammen mit der Vorsitzenden … Aßbichler, freundlich lächelnd bei einer gemeinsamen Ausstellung ihrer selbst gemalten Bilder. Auch Listen von gemeinsamen Golfturnieren im Internet legen nahe, dass „gute Beziehungen“ der aufgebrachten Leserbriefschreiberin vor allem zu dieser Vorsitzenden bestehen.
Zu Wort meldete sich auch der Präsident des Rotary-Clubs Chiemsee und forderte die Chefredaktion der ZEIT auf, den Fall … [T.] endlich von „dritter neutraler Seite aufarbeiten zu lassen“. Zur Aufarbeitung dieses Kriminalfalls seien in der Region „Vorträge durch eine Vorsitzende Richterin eines Landgerichts“ und „einen Direktor eines Instituts für Rechtsmedizin“ gehalten worden: „Alle bescheinigten den befassten Ermittlungsbehörden und dem Gericht eine äußerst akribische Vorgehensweise!“ Welche mit dem Verfahren vertraute Vorsitzende und welcher kundige Institutsdirektor das gewesen sein sollen, teilte der rotarische Freund ebenso wenig mit wie den Zeitpunkt der Vorträge.
Sogar ein an der Hauptverhandlung gegen Sebastian … [T.] als Ersatzschöffe beteiligter Briefeschreiber wies die Autorin des Dossiers zurecht und mahnte sie, sie möge künftig „seriös und ausgewogen“ berichten. Abgedruckt hat die ZEIT keinen dieser Briefe, die sich wie bestellt lesen. Die Stimmungsmache gegen den Angeklagten hatte schon zuvor begonnen. Der Nebenklägervertreter Walter Holderle … hatte außerhalb der Hauptverhandlung keine Gelegenheit ausgelassen, die Arbeit des Gerichts zu loben und den Verdacht gegen den Angeklagten zu schüren. … [T.s] Verteidigerin Regina Rick hatte er bei der Staatsanwaltschaft Traunstein angezeigt, unter anderem weil sie die tote Hanna betreffende rechtsmedizinische Unterlagen an einen emeritierten Professor des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf [Klaus Püschel] geschickt hatte. Rick wollte eine zweite Meinung zum Gutachten der Rechtsmedizin München einholen, was bei einer Mordanklage alles andere als ungewöhnlich ist.
Hatte das Schreiben der Vorsitzenden das Fass zum Überlaufen gebracht?
Anders als vom Gesetz vorgesehen trat auch Wolfgang Fiedler, Sitzungsvertreter der Staatsanwaltschaft, der die Ermittlungen gegen … [T.] geführt hatte, der Revision des Angeklagten mit vermeintlichen Argumenten entgegen, nach denen die Rügen seiner Ansicht nach erfolglos sein müssten. Der zur Prüfung der Erfolgsaussichten berufene Generalbundesanwalt hielt die Revision ebenfalls für unbegründet und beantragte, das Rechtsmittel – so wie 95 Prozent aller Revisionen von Angeklagten – als „offensichtlich unbegründet“ zu verwerfen. Denn: Das Urteil … sei rechtsfehlerfrei, und die Tatversion der Traunsteiner Richter „war zwar nicht zwingend, aber möglich; das genügt“.
Den für die Prüfung der Revision zuständigen 1. Strafsenat des Bundesgerichtshofs erreichte aber auch noch eine überraschende weitere Eingabe – die Stellungnahme der Vorsitzenden … Aßbichler. Dass Richter, deren Urteile mit der Revision angegriffen werden, sich beim Bundesgerichtshof mit eigenen Prognosen zu den Aussichten einer Revision äußern, sieht das Gesetz nicht vor. Hier aber kritisierte die Vorsitzende Richterin das Vorbringen der Verteidigung: Die von den Verteidigern erhobenen Verfahrensrügen seien „einseitig und lückenhaft“, und der zugrunde gelegte Sachverhalt sei „insgesamt unzutreffend wiedergegeben“.
Der besondere Zorn der Vorsitzenden galt jedoch der Behandlung ihrer eigenen Person: … [T.s] Verteidiger Yves Georg und Regina Rick hatten in der Revision beanstandet, dass sich die Vorsitzende Aßbichler mit dem Staatsanwalt Fiedler per E-Mail darüber abgesprochen habe, welches Mordmerkmal man einer Verurteilung zugrunde legen könnte – und das, ohne den Angeklagten und seine Verteidigung daran zu beteiligen oder auch nur darüber zu informieren. Regina Rick hatte die Vorsitzende in der Hauptverhandlung deshalb wegen Besorgnis der Befangenheit abgelehnt.
Ausgerechnet die Befangenheitsrüge überzeugte die Bundesrichter, weshalb es auf die anderen Beanstandungen gar nicht mehr ankam. Im April 2025 hob der Bundesgerichtshof das Urteil … auf und verwies die Sache zur neuen Verhandlung an eine andere Kammer des Landgerichts Traunstein zurück. Über die Vorsitzende Aßbichler heißt es im einstimmig gefassten Aufhebungsbeschluss, deren „unaufgefordert abgegebene Stellungnahme“ habe die Bedenken gegen das Traunsteiner Mordurteil noch zusätzlich „vertieft“, lasse sie doch „ebenfalls ein Fehlen der gebotenen richterlichen Distanz“ erkennen. Hatte das Schreiben der Vorsitzenden das Fass zum Überlaufen gebracht?
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Im Internet kann man sich ein
Video aus dem Jahr 2022 ansehen, in dem Jacqueline Aßbichler eine junge Reporterin des bayerischen Regionalsenders rfo durch ihren Traunsteiner Sitzungssaal führt und ihr die verschiedenen Rollen der Prozessbeteiligten auseinandersetzt. Sie wirkt umgänglich und freundlich, wie sie da erklärt, dass der Platz des Staatsanwalts traditionell vor dem Fenster sei, weil er dann im Gegenlicht als „Lichtgestalt“ erscheine.
Und sie erzählt, dass sie über keines ihrer Urteile jemals später ins Zweifeln geraten sei. Nur bei einem: Da habe sie aus Mangel an Beweisen jemanden laufen lassen müssen, von dem „wir gewusst“ haben, dass er es war.
Die Traunsteiner Kammer unter dem Vorsitz von … Aßbichler hatte sich bei ihrem Schuldspruch … vor allem auf einen psychisch schwer gestörten Gefängnisinsassen namens Adrian … [M.] gestützt, der behauptet hatte, … [T.] habe ihm in der gemeinsamen U-Haft den Mord … gestanden. Entgegen der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs hatte die Kammer damals darauf verzichtet, die Angaben dieses problematischen Belastungszeugen durch einen Aussagepsychologen begutachten zu lassen. Auch das hatten Georg und Rick mit der Revision beanstandet.
Wenn er joggt, wird er von seiner privaten Prätorianergarde begleitet
Die neue Vorsitzende Heike Will wollte die Aussage des Knastzeugen … [M.] daher noch vor der neuen Hauptverhandlung gutachterlich überprüft wissen. Ihre Wahl fiel auf Max Steller, der zu den renommiertesten deutschen Rechtspsychologen zählt. Der Berliner Professor hat sich inzwischen die polizeiliche Videoaufzeichnung der belastenden Aussage des Zeugen … [M.] angesehen und auch die umfangreichen Gerichtsakten über ihn gelesen: Nicht nur seine Opfer hatte dieser wegen zahlreicher Sexualdelikte verurteilte Zeuge bereits belogen und manipuliert, sondern immer wieder auch Behörden und Gerichte.
In einem 42-seitigen Gutachten kam Steller im Juni zu dem Schluss, dass ein Erlebnishintergrund jenes angeblichen Geständnisses, das … [M.] im Untersuchungsgefängnis von … [T.] entgegengenommen haben will, nicht nachgewiesen werden kann. Der Professor hält eine bewusste Falschaussage des Belastungszeugen, der an einer Borderline-Persönlichkeitsstörung leidet, für möglich. … [M.] habe sich nach eigenen Angaben von einer Beschuldigung seines Mithäftlings … [T.] persönliche Vorteile versprochen.
Außerdem behauptete er, zuallererst einem Gefängnisbediensteten von … [T.s] angeblichem Geständnis berichtet zu haben, noch vor dem eigenen Rechtsanwalt, den Ermittlern und dem Gericht. Der Beamte hat diese Behauptung gegenüber der Polizei bestritten: Er wisse nichts von einer Beichte, die … [T.] gegenüber … [M.] abgelegt haben soll. Trifft das zu, hat … [M.], dessen Geständnisbericht ohnehin nicht über Zeitungswissen hinausging, von Anfang an gelogen. Der Sachverständige zeigt sich in seinem Gutachten irritiert darüber, dass dieser für die Glaubwürdigkeit des Belastungszeugen so wesentliche Widerspruch im aufgehobenen Urteil keine Rolle spielt. Der Justizvollzugsbeamte war im Prozess gegen … [T.] nicht einmal als Zeuge geladen worden. Offenbar wollte man … [M.s] belastende Aussage nicht hinterfragen.
Kurz nach dem Eingang des Gutachtens hob das Landgericht Traunstein den Haftbefehl gegen Sebastian … [T.] auf, da nun kein dringender Tatverdacht mehr bestand. Er wurde aus dem Gefängnis entlassen. Und so kommt es, dass er an diesem Tag Ende Juli in Aschau gleichmütig im Stimmengewirr seiner Familie sitzen kann. Seine Erzählungen vom Gefängnis sind stockend und ohne Anklage: Er habe sich „integriert“, sagt er zur ZEIT, und mit jedermann „gut verstanden“. … [T.] wirkt wie eine Art Forrest Gump. All den Stress, den Groll und die Verzweiflung seiner Angehörigen scheint er nicht mitzubekommen oder nicht an sich heranzulassen.
Mittlerweile joggt er auch wieder leidenschaftlich – aber jetzt nicht mehr allein. Seine Mutter, seine Cousinen oder Tanten begleiten ihn stets auf dem Fahrrad oder wechseln sich nach einem Teil der Laufstrecke ab, weil keine das Rennen so lange durchhält wie er. … [T.] darf auch nicht allein auf die Straße und nicht allein zum Einkaufen. Er ist umgeben von seiner ganz privaten Prätorianergarde, die stets besorgt ist, dass jemand diesem schwächsten Mitglied der Familie eine Falle stellen oder etwas Neues anhängen könnte.
Wenn Partys in der Aschauer Disco steigen, muss Sebastian seine Fitnessuhr die ganze Nacht hindurch tragen, weil sie nicht nur seine Vitalfunktionen dokumentiert, sondern auch seinen Standort. Niemand soll später behaupten können, Sebastian sei es gewesen, wenn irgendwo eine Person zu Schaden kommt.
So ist Sebastian … [T.] auf eine Art immer noch im Gefängnis. Und alle … [T.s] hoffen, dass das nach der neuen Hauptverhandlung vorbei sein wird.
Zeit online am 30.07.2025
https://www.zeit.de/2025/32/eiskeller-p ... traunstein