28.12.15
VERZWEIFELTE SUCHE
Sollte Inga leben, wäre sie jetzt sechs Jahre alt Ein Mädchen verschwindet spurlos im Wald. Das war im Mai. Der Soko-Chef hofft noch immer, Inga lebend zu finden. Er ließ Teiche leer pumpen, Misthaufen durchwühlen. Szenen einer verzweifelten Suche.
Neulich rief ein Mann bei der Sonderkommission (Soko) "Wald" an. Seine Frau habe geträumt, erzählte er, dass die kleine Inga in einer Hütte am Kiesweg sei, in der Nähe von Wilhelmshof, dem Ort, an dem das Mädchen im Mai spurlos verschwunden war. Die Polizisten fuhren sofort raus und suchten die Hütte. Sie war leer.
Wie verzweifelt müssen Ermittler sein, wenn sie Träumen nachjagen? Holger Herrmann verschränkt die Arme vor der Brust. Das macht er oft, wenn ihm eine Frage nicht gefällt. Er überlegt kurz und fährt dann unbeirrt fort in einem brummenden Sächsisch, das selten laut oder schneller wird. Sie hätten eine ganze Reihe solcher Hinweise, sagt der Leiter der Soko. Leute, die von Eingebungen berichteten oder von einem Pendel, das ihnen verraten habe, wo Inga sei.
Und ja, selbstverständlich gingen sie dem nach. Denn erstens: Wer wisse schon, ob es wirklich ein Pendel war und nicht der Täter, der dem Anrufer den Hinweis eingeflüstert hat, das Pendel also nur eine Verschleierung? Und zweitens: "Wie soll ich beurteilen, was es gibt und was es nicht gibt? Wie funktioniert die menschliche Psyche, könnte es nicht sein, dass irgendjemand etwas träumt?"
"Es gibt noch genug zu tun": Holger Herrmann leitet die Soko "Wald"
Herrmann nimmt einen Schluck Filterkaffee aus der Kanne, die ihm die Sekretärin auf den Schreibtisch gestellt hat. In dem kleinen Büro der Polizeistation Stendal hängt eine Pinnwand mit einer Karte von Sachsen-Anhalt, sein Revier. Hermann ist der Chefermittler der Polizeidirektion Nord. Vergangenes Jahr ließ er einen Pädophilenring hochgehen, der sich im Zoo von Aschersleben traf, um nach Opfern Ausschau zu halten. Sein bisher größter Erfolg.
54 Jahre ist er alt, davon 32 bei der Polizei. Er hat lange Kriminalistik gelehrt, seinen Studenten eingeschärft, dass die eigene Wahrnehmung ein trügerisches Ding ist. Holger Herrmann glaubt nicht an Übersinnliches. Er schließt Möglichkeiten aus, bis die Wahrheit übrig bleibt. Und in diesem Fall, der anders ist als alle Fälle zuvor, will er sagen können, dass er alles untersucht hat.
Wirklich alles.
Am Samstag, den 2. Mai 2015 um 20.13 Uhr ging ein Notruf bei der Polizei Stendal ein. Was darauf folgte, hielt das Land wochenlang in Atem. Familie G. hatte mit ihrer fünfjährigen Tochter Inga einen Freund besucht, der bei dem Diakoniewerk in Wilhelmshof arbeitet. Suchtkranke und behinderte Menschen sind dort untergebracht, auf einem entlegenen Gelände mit einem Dutzend Wohnhäusern, umgeben von dunklen Tannen.
Am Abend sollte gegrillt werden. Inga lief mit den anderen Kindern zum Waldrand, Holz sammeln. Und kehrte nicht mehr zurück.
Holger Herrmann übernahm die Leitung der Sonderkommission, die sie "Wald" tauften, weil man Inga irgendwo im Dickicht vermutete. Er schickte 1500 Einsatzkräfte und Spürhunde los, die ein rund 5000 Fußballfelder großes Gebiet durchstreiften. Er ließ Teiche leer pumpen, Misthaufen durchwühlen, das Gelände mit Hubschraubern und Wärmebildkameras abfliegen, Hunderte Personen befragen.
Durch den Wald zogen Menschenketten, die so eng waren, dass sie alte Haarspangen im Unterholz fanden. Nach fünf Tagen musste er den Eltern mitteilen, dass er ausschließen könne, dass sich ihre Tochter in dem Wald befinde.
Fahndungsposter zeigen ein Mädchen mit Zahnlücke und geflochtenen, aschblonden Zöpfen, das einen mintgrünen Pulli mit einem Schmetterling auf der Brust trägt. Das Bild wurde im ganzen Land plakatiert, dazu eine Homepage und Hotline eingerichtet. Herrmann trat bei "Aktenzeichen XY ... ungelöst" auf und bat eindringlich um Hinweise, mochten sie auch noch so unwichtig erscheinen.
Spürhund schlug bis zum Berliner Ring an
1700 Anrufe gingen ein. Eine Frau wollte Inga in Begleitung eines älteren Herrn in der Berliner U-Bahn gesehen haben. Die Ermittler fanden den Mann. Das Mädchen war seine Tochter.
In halb Europa sei Inga schon gesehen worden, erzählt Herrmann. Ein Spürhund, ein sogenannter Mantrailer, schlug bis zum 100 Kilometer entfernten Berliner Ring an. Ob Hunde einer vermeintlichen Fährte überhaupt so weit folgen können, zumal wenn Inga in einem Auto mitgenommen wurde, darüber sind sich die Fahnder jedoch nicht einig.
Die einzige Gewissheit bisher ist, dass es keine konkrete Spur gibt. Keine Fußabdrücke, Haare, Kleidung, keine abgeknickten Äste, keine Kampfspuren mit Tieren. Das Mädchen ist wie vom Wald verschluckt.
In Schönebeck, Sachsen-Anhalt, verschwand vor neun Wochen die kleine Inga
Vermisstenfälle
Polizei prüft Parallelen zwischen Elias und Inga
Dieser Sommer war der Sommer der verschwundenen Kinder. Inga, 5. Elias, 6. Mohamed, 4. Die beiden Jungen wurden Ende Oktober gefunden, tot, offenbar sexuell missbraucht und erdrosselt von demselben Täter. Ein alleinstehender, 32-jähriger Mann aus Brandenburg ohne Vorstrafen oder sonstige Auffälligkeiten. Der Albtraum jedes Ermittlers.
Beide Kinder lebten schon lange nicht mehr, als die Berliner Polizei Silvio S., den mutmaßlichen Mörder, festnahm. Seine Eltern hatten ihn auf dem Fahndungsbild wiedererkannt. Eine Überwachungskamera hatte aufgezeichnet, wie S. Mohamed an der Hand von dem Gelände des Landesamtes für Gesundheit und Soziales wegführte, vor dem der Junge auf seine Mutter gewartet hatte.
Die Leiche von Mohamed fanden die Polizisten in S.s Kofferraum in einer Plastikwanne, bedeckt mit Katzenstreu. Am Ende einer nächtlichen Vernehmung gestand S., auch Elias aus Potsdam entführt zu haben. Er zeichnete eine Skizze seines Schrebergartens, in dem er die Leiche des Jungen vergraben hatte. Würden sie dort etwa auch Inga entdecken?
Elias' Leiche lag in einem Karton
Als die Kollegen aus Berlin anriefen, überkam Holger Herrmann Hoffnung und Sorge zugleich. Endlich etwas, das uns zu Inga führen könnte, dachte er. Aber der Gedanke, der ihm in den nächsten Stunden im Kopf herumging, war: Bitte findet keine kleine Leiche. Die Kollegen gruben den gesamten Garten um. Elias' Körper steckte in einem Karton, 40 Zentimeter tief unter der Erde.
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Fälle Elias und Mohamed
Jetzt spricht die Familie von Silvio S.
Inzwischen wurde die Wohnung von Silvio S. durchsucht, sein Handy, auf dem er Fotos von Kindern gespeichert hatte, der Computer. "Bisher gibt es keinen Hinweis, dass er etwas mit Inga zu tun hat", sagt Herrmann. Mehrmals ist er nach Berlin gefahren, um sich mit den Kollegen auszutauschen. Auch in Potsdam ist er gewesen, nachdem Elias entführt worden war. Der Junge hatte im Sandkasten vor dem Haus gespielt, niemand hatte etwas beobachtet, es gab keinerlei Spuren. "Darin sind sich beide Fälle sehr ähnlich", sagt Herrmann.
Eine Parallele, die Ohnmacht offenlegt. Selbst seine Frau, mit der er seit mehr als 25 Jahren verheiratet ist und eine Tochter großgezogen hat, hat ihn letztens gefragt, wie es ihm jeden Morgen gelinge, sich zu motivieren. Er glaube doch nicht etwa daran, dass die Kleine noch lebt?
Herrmann verschränkt die Arme, die Handflächen presst er dabei fest unter die Achseln. "Wissen Sie, wir sind sicher nicht so blauäugig, dass wir die Möglichkeit ausschließen, dass Inga tot ist." Nun wird er doch etwas lauter.
Er kenne die Statistiken, die besagen, dass Kinder, die länger als einen Monat verschwunden sind, meistens gar nicht oder tot gefunden werden. Er kenne die Vergleichsfälle ganz genau, die in den Zeitungen zitiert wurden, habe gehört, was all diese "Experten" in den Talkshows verkündet hätten. "Das sind Leute, die noch nie mit mir gesprochen haben, keine einzige Seite unserer Ermittlungsakten gelesen haben. Und weil die sagen, Inga ist tot, soll ich das Mädchen jetzt aufgeben?" Herrmann schüttelt den Kopf. "Nee, das mach ich nich. Nee. Wenn selbst wir sie aufgeben, wen hat die Kleene denn dann noch da draußen?"
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Für einen Augenblick verstummt er, fängt sich wieder. "Wissen Sie, diese Statistiken sagen auch, dass die Kinderleichen in der Nähe des Tatorts gefunden wurden. Wir haben aber nichts gefunden." Außerdem habe es schon Fälle gegeben, in denen Menschen nach Jahren der Gefangenschaft freigekommen seien. Holger Herrmann hat in der Soko jedenfalls eine klare Ansage gemacht: "Für uns lebt Inga so lange, bis wir das Gegenteil bewiesen haben."
Vor zwei Jahren ist er zum Kriminaldirektor befördert worden, seitdem ist er mit Administrativem beschäftigt, Personalpläne, Dienststrukturen, er kommt nicht mehr viel raus. Leider, sagt er. Er braucht das, ist früher immer zum Tatort gefahren, Fotos reichten ihm nicht. Er musste die Umgebung spüren.
Auch bei Inga ist er gleich los, als der Anruf kam. Es ist der einzige Fall, dem er sich noch voll widmet, er hat ihn zur Chefsache gemacht. Ingas Eltern haben seine private Handynummer. Von Zeit zu Zeit spricht er mit ihnen, erklärt den Stand, bemüht, keine falschen Hoffnungen zu wecken. Er erzählt keine Details, das würde die Eltern nur belasten, sagt er.
98 Prozent der Hinweise abgearbeitet
Die Details stecken im Nebenraum, in Aktenordnern, die sich über eine ganze Wand reihen. 98 Prozent der Hinweise hat die Soko "Wald" mittlerweile abgearbeitet, nun werden die Ergebnisse ausgewertet: Aussagen und Vernehmungen nach Themenkomplexen gruppiert, nach Zeitschienen und Orten sortiert, möglichen Versionen zugeordnet, wie Inga verschwunden sein könnte.
Eine Tür weiter sitzen zwei Beamte an Rechnern, an der Wand hängt eine Skizze von Wilhelmshof. Mit schwarzem Filzstift sind Gebäude und Wege eingezeichnet, Grillplatz, Holzschober und Löschteich markiert. An einigen Stellen kleben grüne und orange Punkte, darunter stehen Namen.
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Anfangs hatte die Soko 40 Mitglieder, nun sind es noch zwölf. In der Morgenkonferenz sprechen sie über Hinweise, die neu eingegangen sind, was aber nicht mehr oft vorkommt. Dann werten sie Vernehmungen aus und befragen Zeugen ein zweites Mal, wenn Widersprüche aufgetaucht sind. Man habe mit Grundszenarien begonnen zu arbeiten, die sich über die Monate weiter verästelt hätten, sagt Herrmann.
Diese Grundszenarien waren erstens: Inga ist weggelaufen. Zweitens: Inga hatte einen Unfall. Drittens: Inga wurde entführt. Möglichkeit drei sei die wahrscheinlichste. Möglichkeit eins dagegen auszuschließen. Und Möglichkeit zwei? Herrmann zögert. "Nicht unbedingt. Es könnte ja zum Beispiel jemand an dem Unfall beteiligt gewesen sein." Weiter möchte er dazu nichts sagen.
Will man ihm Details entlocken, sagt er schlicht: "Dazu kann ich keine Angaben machen." Und bittet um Verständnis, er wolle die laufenden Ermittlungen nicht gefährden.
Manchmal denkt er an ein Happy End
Acht Monate arbeitet er nun schon an dem Fall, hat Möglichkeit nach Möglichkeit ausgeschlossen, aber kein Ergebnis. "Das geht an die Substanz", räumt er ein. Irgendwann, das weiß er, wird vielleicht der Moment kommen, an dem er die Maschinen abschalten muss. An dem er jeder Spur gefolgt ist, jeden Hinweis dreimal ausgewertet hat, immer wieder ins Leere gelaufen ist. Er will das dann mit seinem Team besprechen. Den Stecker ziehen, das sei keine Entscheidung, die man allein treffe.
Herrmann verschränkt die Arme. "Aber daran denken wir jetzt nicht. Es gibt noch genug zu tun."
Manchmal spult sich eine Szene in seinem Kopf ab, ein Happy End, das er gerne abspielen lässt. Es ist der Moment, in dem er Inga findet. Er nimmt das Mädchen auf den Arm, drückt es fest an sich und lässt es nicht mehr los, bis er es den Eltern übergibt. Hermann legt eine Hand auf seine Brust. "In diesem Augenblick, also, da würde mir ein Gebirge vom Herzen rutschen." Ein paar Sekunden lang erlaubt er sich zu lächeln.
Sollte Inga noch leben, wäre sie inzwischen sechs Jahre alt.
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