Erstmal besten Dank, AngRa, für deine differenzierte und sachliche Sichtweise, auch wenn ich vielleicht nicht den gleichen Bewertungsmaßstab habe, wie du. Aber gerade das ist für mich eine willkommene Spannung, um mir einerseits selbst klar über die Validität (Zuverlässigkeit) meines eigenen Bewertungsmaßstab zu werden, und andererseits über Möglichkeiten nachzudenken, ob und gegebenenfalls wie junge Mütter in vergleichbarer Lebenslage zu einer Zufriedenheit und Erfüllung kommen können ohne einen Liebhaber.
AngRa hat geschrieben:Ich möchte die Persönlichkeit von Brigitte Volkert nicht negativ sehen
Ich kann und werde natürlich die Ehe nicht beurteilen. Denn, es ist, wie du schreibst:
AngRa hat geschrieben: Das ist eine komplexe Angelegenheit an dem beide Partner ihren Anteil haben.
zu einer Ehe gehören zwei Personen.
Deine Bemerkung:
AngRa hat geschrieben:Grundlos wendet sich niemand einem anderen Partner zu
möchte ich jedoch über den Ehemann erweitert sehen. Denn ein zeitgeistverblendetes Ego kann immer Gründe finden, egal, ob sich ein Partner abstrampelt oder nicht. Dann gibt es Bedingungen, in die Menschen hineingeboren werden, für die sie nichts können. Und es gibt traditionelle Moralauffassungen bzw. Werte und es gibt moderne Moralauffassungen bzw. Werte, welche zu den traditionellen in einem Spannungsverhältnis stehen. Im Fall von Brigitte ist es zu spät. Ihr Verhalten war, gemessen an ihren Wunschzielen, dysfunktional. Es hat nicht zum Erfolg geführt. Sie ist gescheitert. Deshalb sehe ich das Verhalten von Brigitte als negativ an.
Brigittes Wunschziele kamen aus dem Bauch und fanden keine Prüfung durch die Vernunft. Brigitte ließ sich nach eigenen Aussagen von niemandem kontrollieren und unterdrücken. Daran ist sie m.E. gescheitert. Es hat anscheinend keine Instanz gegeben, die ihr die Fähigkeit vermitteln konnte, mit Beschränkungen positiv umgehen zu können.
Ihr Konsumverhalten scheint mir eine Ersatzbefriedigung gewesen zu sein und das Unterbinden löste vermutlich eine Art Trotzreaktion aus.
Brigitte hatte gerne gearbeitet. Sie half gerne, fütterte die Tiere, mistete aus, holte Heu und Futtermais ein. Es machte ihr Spaß.
Ob sie im Haushaltsmanagement, in der Ökonomie und in den Kochkünsten top war, glaube ich eher nicht, wenn sie mit 15 Jahren schon schwanger geworden war.
Aber sie identifizierte sich mit den Kindern und kaufte ihnen lt. Freundin immer das Neueste.
Dem liegt anscheinend ein Bedürfnis zugrunde, dass das Äußere auf andere Eindruck machen soll. Dachte sie, dass ein Kind sonst Nachteile erlebt? Das scheint die Denke gewesen zu sein. Und das deutet auf eine totale Außenlenkung durch die peer group (Altersgruppe), durch Werbung, durch Appelle an Selbstverwirklichung und problemloses Erreichen alternativer Lebenskonzepte hin.
Der Soziologe David Riesman, der mich in seiner Gesellschaftsanalyse der US-Gesellschaft in den 50er Jahren beeindruckte, sprach von drei Gesellschaftstypen: Dem traditionsgelenkten, dem innengelenkten und dem außengelenkten Typen. Die Herausbildung der Typen machte er an bestimmten Faktoren wie der Bevölkerungsentwicklung, dem Grad der Industrialisierung, der Wissenschaft in Ablösung der Religion usw. fest, und er beschrieb die Veränderung der Werte sowie die Auswirkung auf den Lebensstil, auf Erziehung und Bildung, auf das Verhältnis der Generationen zueinander usw.
Die Mutter erwähnte in der XY-Sendung, dass Brigitte die Einstellung hatte, dass sie sich "weder von den Eltern unterdrücken, noch kontrollieren" ließ und sich dieses deshalb auch vom Ehemann nicht gefallen lassen wollte. Es war schon schwierig und sicher nicht so abwechslungsreich wie auf einem Bauernhof. Der Konsum schien die vorwiegende Abwechslung gewesen zu sein. Wegen des Geldes kam es zu Problemen und zur Entfremdung. Dann kam die Abwechslung mit dem Liebhaber und es kamen neue Pläne hinzu. Die Rechnung ist nicht aufgegangen. Hätte es eine Chance gegeben, sie im Vorfeld zur Vernunft zu bringen? Das ist die Frage, die ich mir stelle.
Brigitte brachte Bauch und Kopf nicht in Balance. Die Lust, die Wünsche, die Sehnsüchte kommen aus dem Bauch. Der Kopf, der Verstand, sagt, was vernünftig und möglich ist und zeigt Widerstände und Grenzen auf. Und das Herz, das Ich, muss Ordnung und Balance zwischen dem Widerstreit von Bauch und Hirn herstellen.
Vom Verhalten schließe ich auf ihre Persönlichkeit. Sie bekam charakterliche Dispositionen mit und diese wurden durch Umwelteinflüsse zur Persönlichkeit geprägt. Die Persönlichkeit kann und mag ich nicht beurteilen oder bewerten, sondern höchstens Erklärungen für Verhaltensweisen finden.
Das Beispiel im XY-Film, dass Brigitte sauer wurde, weil sie nicht sofort die teure Küche haben konnte, oder der Bekleidungskonsum das Wochenbudget überstieg, machte auf mich den Eindruck, dass ihr Bauchgefühl sehr dominant war. Als Einzelkind bekam sie wahrscheinlich die meisten Wünsche erfüllt und lernte eher nicht, Bedürfnisse aufzuschieben und mit Verzicht leben zu lernen. Auch brauchte sie nie mit Geschwistern teilen, oder musste es aushalten, dass ein Geschwisterkind mal was geschenkt bekam und nicht sie selbst.
AngRa hat geschrieben:Vielleicht (…) hat dann kurz vor ihrem Tod aber erkannt, dass sie sich in erster Linie nur auf sich verlassen kann und nicht auf Männer, weder auf den Geliebten noch auf den Ehemann, sondern dass sie selber aus ihrem Leben etwas machen muss.
Sie hat m.E. erkannt, dass der Liebhaber nicht willens war, ihre Pläne zu unterstützen.
Dagegen konnte sie sich auf ihren Ehemann verlassen. Es ist nicht bekannt, dass er sich vom Acker machen wollte.
AngRa hat geschrieben: Die Kurzhaarfrisur sehe ich als ersten Schritt in dieses neues Leben.
Es könnte auch sein, dass sie jemanden kopieren wollte, der an der Seite des Liebhabers lebte und ihr außerdem kurze, pflegeleichtere Haare als praktischen Zusatznutzen erschienen.
Es liegt mir ferne, Brigitte irgend eine Schuld zuzuschreiben. Sie ist bzw. war ein Opfer des überspannten modernen Lebensstils, welcher den Menschen Vorteile ohne Nachteile vorgaukelt.
Wenn z.B. im Strafgesetzbuch Moralvorschriften wie Ehebruch etc. gestrichen wurden, heißt das nicht, dass diese Verhaltensweisen nun empfohlen werden. Nein, das heißt es nicht. Sie werden lediglich nicht mehr vom Staat bestraft. Aber manchmal werden sie viel härter vom Leben selbst bestraft. Das sollte jungen Menschen auch gesagt werden.
Und typisch für die Außenlenkung von Frauen ist die Naivität, mit der sie auf Gesetze bauen.
Papier ist geduldig. Da kann man vieles drauf schreiben, was sich in der Theorie cool liest. Aber die Praxis ist ausgeblendet. Eine Frau wie Brigitte konnte davon ausgehen, dass die Kinder bei ihr bleiben. Sie glaubte sich im Recht, ihre Freiheit zu suchen und mal eben ein neues Leben anzufangen, sich selbst zu verwirklichen, wie das heißt. So beschloss sie bei sich und für sich die Trennung über die Kinder hinweg und über den Ehemann hinweg. Wie es den Kindern und dem Mann damit ergeht, war erstmal zweitrangig und auch wie der Ehemann persönlich, lebenspraktisch und existentiell damit klar kommt. Das wird sich irgendwie ergeben? Darüber muss man sich weder einen Kopf machen, noch miteinander sprechen?
Also solche Lebensveränderungsentscheidungen können nach meinem Gefühl nicht gut gehen. Ich bin allerdings ein recht altmodischer Mensch und würde mich als innengeleiteten Typen bezeichnen, der sich gegen die omnipräsente Außenlenkung so gut wie möglich zu immunisieren sucht.
(Habe grade gesehen, dass Angra und sistab zwischenzeitlich kommentiert haben. Diese Beiträge sind hier noch nicht berücksichtigt.)