Widasedumi hat geschrieben: ↑Montag, 20. März 2023, 07:38:35
Nochmal zum Mordfall Luise:
Ich habe mich -gelinde gesagt- gewundert, dass eine der ersten Sorgen war, dass man den Familien der Täterinnen auswärtige Wohnmöglichkeiten schaffte und beide Familien zusammen bleiben durften. Man nahm also diese Familien unter Schutz, damit sie keine Vorwürfe und Ausgrenzung spüren mussten.
Ob es das in einem anderen Land auch so gäbe?
Wenn die Täterinnen eine Therapie bekommen und in eine spezielle Einrichtung bzw. Beschulung müssen, ist es klar, dass dann die Eltern auch dort in der Nähe sein sollten. Mir fiel eben das Tempo und die Denke auf nach dem Motto: "O, o! Da müssen wir sofort was für die Täterfamilien tun, und diese rausbringen. Das passierte auf dem Fuß, denn der neue Lebensort stand sofort zur Verfügung, wurde als Angebot unterbreitet und wurde von den Familien angenommen.
Das war eine der ersten Maßnahmen nachdem die Täterinnen die Tat eingeräumt hatten. Luise war noch nicht obduziert, die Pressekonferenz noch nicht im Gange, aber der Schutz für die Täterinnen und ihre Familien war organisiert. Sehr zuvorkommend!, kann ich da zu sagen.
Ich bin nicht für das Prinzip "Auge um Auge". Die Todesstrafe ist abgeschafft. Deutsche dürfen keine Waffen besitzen, um Lynchjustiz zu betreiben. Ich hätte den Familien dennoch gegönnt, dass sie ein paar Tage in Freudenberg ausharren müssen, um von der großen Trauer etwas mitzubekommen und sich unangenehm zu fühlen. Aber sie sind gleich herausgenommen worden, stellen vermutlich alle Medien ab, lassen nichts an sich heran und warten auf psychologische Betreuung, auch die Eltern. Sie werden sich eine Geschichte ausdenken bzw. instruiert bekommen, wie sie anonymisiert bleiben. Dadurch werden sie selbst schnell verdrängen und in eine neue Normalität eingleiten könne?.
Für die stand/steht kein "neuer Lebensort sofort zur Verfügung". Die sind einfach erstmal vorläufig woanders untergebracht, vermutlich ohne Kontakt zur Außenwelt (Nachbarn, Einkaufen gehen) - irgendein ruhig gelegenes Ferienhaus oder so.
Ich meine, was wäre die Alternative? Dass ein aufgebrachter Mob die Familie durch die Straßen jagt oder denen das Haus überm Kopf anzündet? Die Gefahr besteht, und keine Frage, dass da schnell und präventiv gehandelt werden muss.
Was du der Familie "gönnst", wohldosiert natürlich, ist nunmal leider nicht das Maß, nach dem die dortige Öffentlichkeit messen würde.
Was die Perspektiven der Täterinnen angeht:
Wir haben nunmal eine Altersgrenze für Strafmündigkeit (wie so ziemlich jedes andere Land auch). Ist die mit 14 angemessen? Ich komme bei meiner Arbeit regelmäßig mit jugendlichen Delinquenten zusammen und sage mal vorsichtig ja. Ist natürlich nur meine persönliche Ansicht, bin allerdings beruflich näher an dem Thema dran als die meisten anderen, die sich dazu eine "starke Meinung" leisten.
Insbesondere geht es beim Jugendstrafrecht (dessen altersmäßige Ausweitung nach unten aktuell wieder mal hier und da gefordert wird) kaum um Strafe ("Auge um Auge") per se, sondern um eine pädagogisch sinnvolle Maßnahme. Und jahrelanges Wegsperren (wird idR nur bei älteren Jugendlichen und mehrfacher Tatwiederholung verhängt) ist in diesem Sinne nunmal nicht sinnvoll, unabhängig von der Tat.
Ich meine, mal so gefragt: Wären die Täterinnen nun 9 und 10 (auch da ist vereinzelt grundsätzlich hinreichende Aggression und Entschlusskraft zu beobachten, körperliche Befähigung sowieso), sollte man in dem Fall dann mit einer Absenkung der Strafmündigkeit auf dieses Alter reagieren? Und wie dann einen solchen Fall bestrafen?
Gedanklicher Hintergrund: Erwachsene, mündige Personen haben der Gesellschaft gegenüber eine Verantwortung, deren Regeln/Gesetze nicht zu übertreten. Dagegen hat die Gesellschaft gegenüber Kindern eine Verantwortung, ihnen ein gelingendes Leben zu ermöglichen und dieses auch zu fördern.
Auch wenns in diesem Fall besonders schwer fällt, das nachzuvollziehen und anzuerkennen: Die Gesellschaft kann hier ihre Verantwortung gegenüber den kindlichen/jugendlichen Täterinnen nicht über Bord werfen, nur weil deren Tat besonders schockt. Natürlich bekommen die das was ihnen hilft, trotz der begangenen Tat eine Chance auf ein zukünftiges normales und gelingendes Leben zu haben (mittelfristig wird es jedenfalls nicht "normal" sein).
Ich meine, mal der perspektivische Vergleich: Wenn das nun mit den Täterinnen aufgearbeitet und diese Entwicklung begleitet wird, stehen die Chancen gut, dass sie in Heranwachsen und Persönlichkeitsentwicklung zu einer selbstkritischen und reuigen Haltung dazu finden. Sperrt man sie dagegen aus Rachebedürfnis weg, versagt ihnen die Unterstützung einer Aufarbeitung, lässt sie sozusagen (im Sinne der gesellschaftlichen Verantwortung) fallen, dann wäre viel eher von einer sich entwickelnden und verfestigten Selbstgerechtigkeit und Abgewandtheit von der Gesellschaft auszugehen. Es ist also nicht nur eine moralische, sondern auch eine zweckmäßige Frage und Entscheidung.
Das Jugendstrafrecht ist, wenn man so will, dafür da, den Übergangsbereich zwischen Kind unter gesellschaftlichem Schutz und mündigem Erwachsenen zu gestalten. Entscheidend ist hier immer die Einschätzung der persönlichen Reife, Verantwortungsfähigkeit, tatsächlichen Mündigkeit, zu der der Täter in der Lage ist. Und es gibt nunmal sinnvollerweise eine Altersgrenze, wo man meint, unterhalb dieser sei das Strafgesetz generell nicht geeignet, auf Delinquenz zu reagieren.
Die Tat ist schrecklich, macht hilf- und sprachlos, fassungslos. Und da ist nichts zu relativieren.
Aber ist es hier richtig, sich selbst emotional zu entlasten, indem man der eigenen Wut auf die Täterinnen freien Lauf lässt, ihnen nur Übles wünscht, pauschales Unverständnis bzgl. Strafmündigkeitsgrenze äußert und deren Absenkung fordert? Ist es richtig, das mit Überzeugungswille als "starke Meinung" öffentlich rauszuhauen, auf der Suche nach gegenseitiger Zustimmung und Unterstützung?
Provokativ gefragt, ist das nicht das gleiche Muster, nach dem die Täterinnen mutmaßlich gehandelt haben? Auf eine Beleidigung/Kränkung (genau das ist deren Tat gegenüber der Gesellschaft) mit Hass und Rache reagieren, sowie das Bedürfnis, gemeinsam mit anderen mit gleicher Haltung über sie herzufallen (Mobbing)?
Das "Auge um Auge" ist hier weniger ein "du bekommst, was du getan hast", sondern vielmehr ein "wir behandeln euch so, wie ihr das Opfer behandelt habt". Bitte hier keine Relativierung mit inhaltlichem Vergleich, ich bin mir da der Unterschiede durchaus bewusst. Wovon ich rede, ist in erster Linie die Haltung.
Luise ist tot, und nichts wird das rückgängig machen können. Ob wir in unserer Reaktion nur unseren Emotionen freien Lauf lassen und versuchen, die eigene, schwer erträgliche Hilf- und Sprachlosigkeit damit zu überwinden, oder ob wir in der Lage sind, eine bessere Haltung und Reaktion zu finden - es liegt an uns.
Nachtrag:
Es liegt in der Natur (der meisten) Menschen, für jedes Unbill zuallererst einen Schuldigen finden zu wollen. Auch das entlastet. Entlastet von der Verantwortung, sich um eine ausgewogene Haltung bemühen zu müssen. Entlastet von der etwaigen Verantwortung, selbst etwas zur Lösung beitragen zu müssen.
Ich habe gehört, in Japan habe man die Haltung, Verantwortung für die Lösung eines Problems habe nicht der, der es verursacht habe, sondern der, der etwas zur Lösung beitragen könne. Ich weiß nicht, ob das dort wirklich so ist, hierzulande ist es jedenfalls nur wenig verbreitet.
Jedenfalls, die notorische Suche nach Schuldigen hat ja längst eine Menge Angebote hervorgebracht: Die Eltern (immer...), die Multikulti-Schule, die (wie jede andere Schule auch) die Corona-Maßnahmen exerziert hat, mutmaßliche oder tatsächliche Migrationshintergründe (echter Kassenschlager), die bösen digitalen Medien... und in die gleiche Rolle werden auch diejenigen Offiziellen hineinformuliert, die sich jetzt im Nachgang nicht genau so dazu äußern, wie man es selbst am liebsten hätte. Da entlädt sich der Vorwurf der Schuldigkeit eben stellvertretend gegen irgendwelche Leute, die im Nachgang nicht so auf die Kacke hauen, dass es die eigene "starke Meinung" bestätigen würde.
Alles verständliche und nur menschliche Regungen, keine Frage. Gleichzeitig ist es doch nur gut und billig, sich selbst zu durchschauen und erstmal nachzudenken, bevor man laut zu reden beginnt. Wer unbedacht seinen starken Emotionen nach losbellt, ist von der Haltung her auch nur ein Affekttäter.